irren & verwirren 4

Übrigens fällt dem Fragmentarischen nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft eine eminente Bedeutung zu. Es regt an und stört auf, weil sich seine Spur ins Unbekannte, ins Unerforschte oder sogar Unerforschliche verliert. So hat die Wissenschaft, nach den Worten der französischen Philosophin Jeanne Hersch, „überhaupt erst angefangen, Fortschritte zu machen, seit sie zur Einsicht kam, dass sie nicht das Ganze kennen kann, sondern nur gerade Bruchstücke.“[1]

 Die Welt, in der wir uns bewegen, besteht nicht aus heilen Ganzheiten.
Sie ist durch und durch disparat und zerstückt. Arbeitsteiligkeit, Spezialisierung und Professionalisierung haben den gesellschaftlichen Prozess der Aufspaltung bis in die Subjekte hinein vorangetrieben.

Schon gegen Ende des zweiten Weltkrieges bemerkte Arnold Lunn mit einer Prise englischen Humors: „Richtig ausgedrückt ist nicht die Arbeit geteilt, sondern die Menschen. Sie sind in bloße Segmente von Menschen geteilt – in kleine Bruchstücke und Krumen des Lebens gebrochen, so dass das kleine Stückchen Intelligenz, das einem Menschen übrig gelassen ist, nicht genügt, um eine Nadel oder einen Nagel zu verfertigen, sondern sich darin erschöpft, die Spitze einer Nadel oder den Kopf eines Nagels zu machen.“ [2]
Dem lässt sich heute hinzufügen: multiple Persönlichkeiten sind eine Entdeckung der letzten Jahrzehnte, Symptom einer nicht wirklich gelungenen Anpassungsleistung an disparate Verhältnisse. Aber entwickelt haben diesen Typus Generationen vor uns.

 Ohnehin ist das meiste seit jeher nur in Ansätzen oder Endstücken vorhanden. Das ergibt sich schlicht aus dem Gang der Zeit, ein Fließen, das synchron zur Erscheinung und zum Verschwinden bringt. Hervorbringen und Entreißen fallen zusammen. Dabei geht ein Teil der Aufmerksamkeit aufs Auftauchen, ein anderer Teil aufs Untergehen. Und am Ende landet fast alles davon auf der Kehrichtschaufel des Vergessens.

Passanten in einem Getümmel aus noch-nicht und nicht-mehr.
Das macht Aktualität aus, wobei es eben so eine Gemengelage ist, die das oft zitierte schöpferische Chaos darstellt: ein permanenter Tumult, der sich in keiner Gedankenwelt schön zurechtlegen lässt und zu stieben anfängt, wenn Künstler anrücken mit Ordnungsvorstellungen, Formkategorien oder bewährten Ideen.

 Innerhalb, vielleicht auch außerhalb aller labyrinthischen Weltstrukturen gibt es im Geheimnis Sterben und Geborenwerden,  in dem von Sexualität und Erotik mitbestimmten Rätsel von Zeugen und Gezeugtwerden Momente, die im Kontakt, manchmal schon bei bloß virtueller Vergegenwärtigung Turbulenzen und Verwirrung auslösen. Der sachlich gehaltene Diskurs über Sexualität überlagert sie, aber die Irritation wartet auf ihre Gelegenheit, den sie dann bei einer ganz alltäglichen Situation oder Verrichtung unangekündigt am Schwanz packt.

 „Dass es gleiche Namen gibt für verschiedene Dinge“, meint Basilides, „bringt Verwirrung und sachliche Irrtümer bei den Zuhörern hervor.“[3] Aber selbstverständlich ist auch das Umgekehrte der Fall, dass verschiedene Bezeichnungen, die sich im Grunde auf ein und dieselbe Sache beziehen, Verwicklungen und Missverständnisse hervorrufen können im Diskurs, der über sie geführt wird. Das meint die Aussage, eine Sache habe viele Aspekte, sie sei mehrdeutig, vielschichtig.
Sie hat verdientermaßen viele Namen, diese Sache, sie kommen und fliegen ihr von allen Seiten zu. Und kaum einer einsilbig, niemals eindeutig, sondern bringt Laute, Anklänge, Nebengedanken mit sich, die auf die Sache übergehen und sie zudecken können.


[1] Hersch, Schnittpunkte 87

[2] Arnold Lunn, Die Schweiz und die Engländer, Zürich 1947, 135

[3] Basilides in Dokumente der Gnosis, Hg. Wolfgang Schultz, Jena: Diederichs 1910, 139

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