Laokoonie, 1991*

Epitaph 

My greyish blues                                                  Meine graue Trauer
blue galaxy                                                            Blaue Galaxis
far out of space                                                    weit draußen außer Raum
hanging down on heels                                      an den Fersen herabhängend
Royal stuntman                                                    königlicher Stuntman 

Lothar Cohn
10.12.91  15 Uhr 09  

Eine Laokonie
Der Anfang: ZET-Raum am 10. 12. gegen 15 Uhr 

1. Bild
Ein Stück sehr felsige und unwirtliche Küste (schlechter Badestrand) im nordöstlichen Mittelmeer. Vor 117 Jahren, schätze ich, haben Schliemann und seine Nachfolger hier ihre Grabungsarbeiten eingestellt. 

2. Bild
Auf der Ausfallstraße Richtung Bornum und Mühlenberg. Eiskalter Winter. Im Hintergrund der Preußen-Elektra-Komplex. Verwaltungsgebäude. 1945 haben hier die Alliierten die letzten Lagerinsassen befreit. Unter den Überlebenden: Lothar Cohn. Heute wächst Gras. Ein nur noch hüfthoher Stacheldrahtzaun, der jetzt das Areal der Preußen-Elektra umgibt. 

3. Bild
Wieder ZET-Raum: Über einem Eisenträger, der sich quer durch den Raum spannt, hängt ein zusammengefaltetes Fahnentuch. Das Schwarz ist anders, das Rot ist anders, das Gelb ebenso. Im Gewebe sind Lackspritzer, eine Spur Bronze, Sprühdosenfarben. Als wäre ein Mensch damit durch ein Feuerwerk gegangen, anschließend durch eine Nebelkammer. 

1. Szene:
Titelblatt eines Drehbuchs. In Großbuchstaben LAOKOON LAOMEDA mit c oder k. 

Lothar Cohn, ein ausgebildeter Stuntman, probt die Szene nach, dieses Mal in einer Kiesgrube, die mit flüssigem Beton ausgefüllt ist. 

Drehort: ich vermute ehe man nach Harkenbleek kommt, etwa einen Kilometer vor den beiden Friedhofhälften, zwischen denen die Landstraße … 
Am Rande der Grube haben sich die Kameraleute mit ihren Geräten und Kabeln postiert. Das Scheinwerferlicht macht die Grube taghell. Alles liegt in demselben weißen Licht: die Ränder der Grube, der flüssige Beton, der inzwischen unter der Einwirkung der Maschinen, die aus einem norddeutschen Wellenbad angeschafft worden sind, zu wallen und zu wogen beginnt. Infolge des gleißenden Flutlichts sind alle Farben ausgeschaltet. 

Lothar Cohn hat tellerförmiger Schwimmschuhe unter die Füße geschnallt und tritt, behutsam die Tragfähigkeit des Frischbetons prüfend, auf die kochenden Massen hinaus. 

2. Szene (Besinnung):
Ich frage mich, warum ein Priester, ein Formel-II-Pilot, warum Selbstmörder und ein Stuntman wie Cohn ihr Leben riskieren.
Gibt es nicht schon genug Unfreiwillige?
Sie setzen es immer wieder aufs Spiel und was hat es jemals gebracht? 

Cohns Antwort:
Why do we sleep in liquid light?               Warum schlafen wir in flüssig Licht usw.
throughout all of Megapolis,
in buildings out of screen,
in caverns dark and bright,
infolded in coils
of serpents black and green
Hello I see you later,
maybe on Halloween 

Lothar Cohn  

3. Szene (spielt wieder vor Harkenbleek):
Die schweren Transporter eines Fernsehteams sind am Rande der Grube aufgefahren. Finstre Nacht. Der Kälte wegen mit laufenden Motoren. Als hätte ein unsichtbarer Feind Stellung bezogen. Flakscheinwerfer. In der Kabine eines Fahrzeugs hinter kugelsicherem Glas erscheint ein Männerkopf im Profil, eine Schweißerbrille vor den Augen, darunter der Rüssel einer Gasmaske. Schwarz gegen Weiß.Drei Gestalten in Kampfanzügen, gebückt, die über dem Steilrand der Grube ein Schlauchboot aufpumpen. Alles deutet auf Angriff, auf Handstreich. Cohn ist nirgends zu sehen. Ich hoffe er hat sich in Sicherheit gebracht. Der Feind lauert. Aber man weiß nicht wann er zuschlagen wird und wie viele Gruben er bereits in seine Hand gebracht hat.  

4. Szene:
ZET-Raum, an den Wänden Szenen aus dem Leben Laokoons: wie er das erste Mal dem Gott des Beton Meeres opfert. Geburt seiner Kinder. Eines hält er auf dem Arm. Das andere umklammert sein Bein und möchte auf den Schultern des Vaters reiten. Laokoon im Urlaub auf der Insel Tenedos. Im Hintergrund seine Frau, eine bäuerliche Erscheinung, das Haar nach kretischer Mode aufgebunden.
 Dann die üblichen Erinnerungsphotos: mit Familie vor dem Eiffelturm, mit Familie vor der Freiheitsstatue, den dicht vorbeistreifenden Möwen Brocken zuwerfend. Dazwischen ein verwackeltes Bild, zwei Greifvögel im Flug über den Himmel. Zuletzt Laokoon im vollen Ornat, mit abgeschnittenem Schlips, dieses Mal einen künstlichen Dreizack schwingend, genau in dem Augenblick, in dem der Mann hinter der Kamera abdrückt.  

Ich sehe mir die Aufnahmen eingehend an. Sie verraten einiges, aber eigentlich nichts, was als Fingerzeig auf einen gewaltsamen Tod deuten könnte. Überall das Echo, das Klicken, wenn die Kamera für Sekundenbruchteile ihr unerbittliches Auge aufschlägt. Ich misse die klassische Szene, die Silhouette des hölzernen Pferdes, das grandiose Spektakel, als Troja in Flammen aufging. Mir ist kalt vom Stehen. Vom Vortag die Aschenbecher. Überbleibsel undefinierbarer Mahlzeiten. Ein Teller mit einem Rest angefrorener Suppe. 

Im Ofen, dessen Scheibe ein rötliches Licht wirft, zerknallt ein Eierbrikett. Stillleben mit Schütte und zwei stillen Lautsprechern. Ein aufgeschlagener Koffer, der zur Fahne gehört. FFN tönt aus einer der Ecken am Boden und das übliche Knacken, wenn der Automat schaltet und aufzeichnet, was ihm der Anrufer sagt. 

Dann gehe ich an die aufgehängten Texte. Berlin Bahnhof und Zoologischer Garten. Das Bärengehege und die Schlangengruben mit Boa und Python, die Haut gefleckt wie ein Pantherfell. Ausstellungsstücke aus Fleisch, aus Gips, aus Bronze. Ein Wärter schiebt eine Karre mit Eingeweiden zwischen den Stäben der Gitter entlang. Eine Ladung Därme, die über den Wagenrand quillt, einer davon, der sich in der Radnabe dreht. Namen von Straßen und Plätzen, die ich nicht kenne.

Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Eine Zeitungsnotiz. Unterhandlungen mit dem Kustos des Museums in Braunschweig, wo ein Abguss von der Statue steht. Braunschweig, Florenz oder Potsdam, genau weiß ich nicht mehr. 

Der Engel der Geographie, ein Windstoß aus seinen ausgebreiteten Schwingen, aufgeschlagenes Buch der Geschichte mit flatternden Seiten, zwischen denen in Wirbeln bunte Trinkstrohhalme und eine leere Spritedose kollern.  

5. Szene (Anamnese):
Lothar Cohn ist tot.
Laokoon ist eine Gestalt. 

Wie Lots Weib im Salz, so ist er zur Gestalt im Beton erstarrt. Beton fließt. Aber Laokoon ist erstarrt, wie nur Beton erstarrt. 
Die Schlangen, die ihn einschnüren, sind aus denselben geronnenen Massen, aus denen man Wolkenkratzer, Bunker und Autobahnen gießt.
Ich liebe, nebenbei gesagt, Beton am liebsten flüssig wie Haferschleim. Das zu bekennen fällt gar nicht so leicht. 
Laokoon hat Beton seit jeher geliebt. 
Er wusste, dass es keinen Sinn hat, der Erde und ihrem Lehm zu opfern, aus dem man Babel und Troja gebrannt hat. 
Er misstraute, wie Kassandra, seine Kollegin, den Versprechen, die die Götter abgeben. Misstraute dem Himmel und überhaupt allem Frieden, diesem weißen Tuch, das sich mit dem Blut derer färbt, über die man es deckt. 
Zwischen Himmel und Erde erkannte er ganz zuletzt, bereits im Todeskampf mit den Schlangen verstrickt, die Verheißungen dieser schweren und grauen Materie, in die er dann eingehen sollte, durch Verwesung und Marmor, durch Gips und Bronze hindurch.
Er hat alles akzeptiert, spätestens in dem Augenblick, in dem der Verrat der fremden und heimischen Götter ihn preisgab.
 

Jetzt ist er eine graue Figur, die zeitweilig in den silbernen Wolken des menschlichen Hirns steht.
 

Er ist bestimmt neun Tonnen schwer und trotzdem, er schwebt in den Wolken. Er und die Wolken – die Schlangen – mit ihm. 

*) erschienen in X MESS AGE, LAOKOON BEI ZET; 6. – 24. Dezember 1991, einem multimedialen Projekt der Künstler Michael Lembke, Karsten Paul Sturm, Thomas Lembke, Stefan Zimmer u.a. zur Jahrtausendwende, die dann schneller als erwartet eintrat und wieder verschwand. Text „Laokoonie“ während der Aktion entstanden, verfasst und vorgetragen (D.B.).

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