es wahr einmal …

… von der Wahrheit wird erzählt

Die Wahrheit sei ein Spiegel, lautet ein arabisches Sprichwort, ein Spiegel, aus der Hand Gottes gefallen und zerbrochen. Jeder hebt einen Splitter auf und meint, darin die volle Wahrheit zu erblicken.

Wahrheit, auf die Erde gefallen, aus dem Himmel auf die Erde gestürzt. Wohl wahr.
Davon berichtet auch eine jüdische Legende: es habe eine Auseinandersetzung im Himmel gegeben, ob es gut sei, Menschen zu erschaffen. Wahrheit erhob Einspruch: es werden Lügner sein, sagte sie voraus. Sie wurde jedoch überstimmt und als sie nicht zu protestieren aufhörte, auf die Erde geworfen. Auf die Erde, b’arez, was allerdings auch in die Erde heißen kann.

Es schickt sich gewiss für eine wahrhaftige Wahrheit, dass sie erstens  n i e m a l s  klein bei gibt, keine Kompromisse eingeht. Zweitens, dass sie nicht aus einem luftleeren Raum, aus einem Vakuum ihre Stimme erhebt. Sie redet, schreit und klagt von der Materie her, aus den Stoffen, Körpern und Leibern geht und schallt sie hervor.
Wie könnten irgendwelche Geisterreiche oder himmlischen Sphären der Bereich sein, in den sie gehört? Sie ist woanders notwendig: H i e r , b’arez, unter uns soll man sie hören (auch wenn ihr Schicksal, ihre Bestimmung womöglich darin liegt, unerhört zu bleiben).

Unerhörte und zersplitterte Wahrheit. Jede und jeder hat einen Splitter davon (hoffentlich nicht gerade im Auge, sondern vors innere Auge gehalten). Ein stummes Zeugnis. Ein Zeigen fängt daraus an. Ein Zeigen von Zeichen, ein Vorstellen von Ideen. Lauter Erscheinungen sind das, aus denen sich ein kleines Universum buchstabieren, komponieren und erzählen lässt. Ein persönliches, notwendig privat gehaltenes Weltall. Alles andere wäre Übertreibung und Trug.

Doch fragt man sich wider und hin, den erleuchtenden Scherben vor dem Gesicht, warum ein ursprünglich Ganzes in Bruch, in die Brüche gehen musste. Begann Gottes Hand bei seinem eigenen Anblick zu zittern? Entfiel der Spiegel vor Wonne oder vor Schreck? Haben die daraus gesprungenen Splitter mit den Scherben (kelipoth) zu tun, denen die Kabbalisten in den Tiefen, in den Abgründen dieser Welt auf der Spur sind?

Was ist Wahrheit, fragt der skeptische Pilatus, ehe er Jesus zur Kreuzigung freigibt. (Einen Abglanz, ein Schemen gibt die Inschrift, die er dann über dem Gekreuzigten anbringen lässt: Iesus Narazenus Rex Iudorum).

Fragwürdig ist Wahrheit von Anfang an. Ihr stummer Glanz liegt auf allen Dingen, ein Schein von innen her, meist überblendet, wie mit Glanzfolie kaschiert.

Der Sturz der Wahrheit aus den himmlischen Höhen ruft eine andere Katastrophe in Erinnerung: den Sturz des Lichtengels Luzifer. So gesehen hat Dr. Faustus gute Gründe gehabt, bei seinen Forschungen nach den letzten Dingen, nach den wahren Ursachen und Kräften, die alles im Innersten zusammenhalten, beim Teufel nachzusuchen und sich mit ihm zu verbünden. Und doch trat er dabei daneben, weil Wahrheit irgendwo auch auf einer Art Übereinstimmung beruht. Aber die ist bei Satan und Konsorten schwerlich zu finden.

In das Pathos der Frage „Was ist Wahrheit?“ schlüpft gerne jener Unterton, den schon der Skeptiker Pilatus anschlug: „Wahrheit – was soll das schon sein?“. So findet eine erhabene und mitunter auch erhebende Idee Verächter überall dort, wo sie auch auf Fürsprecher trifft. Und umgekehrt. Aber gibt es überhaupt Sinn, für sie einzutreten oder an ihrer Widerlegung, ja Abschaffung zu arbeiten? Ja, es gibt ihn, wenn wir annehmen, dass diese Widerlegungsversuche und Abschaffungsbemühungen Arbeiten sind, die sie heimlich hervorbringen, erzeugend bezeugen. „Aus zahllosen kleinen individuellen Irrtümern entsteht der große, gemeinsame Irrtum. Und dieser Irrtum i s t  unsere (einzige) Wahrheit.“[1]

So wäre auch die Vorstellung von einem zunächst ganzen und heilen Spiegel, der dann in die Brüche geht, zu hinterfragen. Alles deutet auf einen entgegengesetzten Vorgang: was sich als wahr erweisen soll, hat einen langen Entwicklungsgang hinter sich. Es ist im Begriff, aus einer Gemengelage von Meinen und Irren, aus Konflikten und Widersprüchen, auf Feldern fortwährender Auseinandersetzung Gestalt anzunehmen.


[1] Imre Kertész, Ich – ein anderer, Berlin 1998, 67f.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert