Dürer, Zeichner

                                                                                     ungleichzeitig gleichzeitig

 

I.

An der Gestalt der Maria Magdalena erläutert Almut Sh. Bruckstein „jene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des Sinnlichen und des Übersinnlichen, welche dem ordnenden Sprachduktus traditioneller sprachlicher Überlieferung anstößig erscheinen muss“.
Sie verweist auf Malerei und mystischen Kommentar als Medien, in denen diese Gleichzeitigkeit für einen Moment lang in den Blick zu treten vermag.[1]

In den Evangelien und in mittelalterlicher Überlieferung wird Maria Magdalena als anfänglich Besessene gekennzeichnet, aus der Jesus nicht bloß einen, sondern gleich sieben Dämonen austreibt.[2]
Sie gilt als identisch mit der „Sünderin“, die beim Gastmahl in einem reichen Hause dem am Tische liegenden Jesus die Füße wäscht, sie mit ihrem Haar abtrocknet und anschließend salbt. Es soll wiederum auch dieselbe Maria sein, mit der Martha, ihre haushaltende Schwester, in Streit gerät: statt ihr bei der Bewirtung Jesu und seiner Jünger zur Hand zu gehen, hat sie sich zu Füßen des Meisters gesetzt und lauscht hingegeben seinen Worten.

Jesus selbst sagt von ihr, das bessere Teil, das sie erwählt hat, soll nicht von ihr genommen werden. Im Zusammenhang mit der Salbung mit kostbarem Nardenöl nimmt er die Gescholtene in Schutz und erklärt: „Vergeben sind ihre vielen Sünden, weil sie viel geliebt hat.“[3]
Es schließt sich dann noch ein merkwürdiger Dreh in Jesu Argumentation an: „wem wenig vergeben wird, liebt wenig.“.

Die Ungleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit ist keine Urgegebenheit. Sie geht auf eine Segregation, auf einen Trennungsvorgang zurück, der in seinem Fortgang bis zur völligen Abspaltung des sinnlichen Begehrens aus den intellektuellen oder spirituellen Ambitionen gehen kann.
An der Aufhebung solcher Sonderung, die sich ja vielfach fortsetzt, in der Abscheidung des Gefühls aus dem Verstand, des Bauchs vom Kopf usw. ist viel gelegen. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer  Neuverknüpfung ist heute schon beinah Konsens.

Dennoch scheint die Wiedereingliederung z.B. des Geschlechtlichen ins Spirituelle und die „nachhaltige“ Einverleibung des Spirituellen ins Sexuelle mit außerordentlichen Widerständen verbunden zu sein. Die Herkunft dieser Widerstände lässt sich erahnen. Aber erklärungsbedürftig ist schon, was sie eigentlich so widerständig und schier unaufhebbar macht. 

Die von Almut Sh. Bruckstein vorgestellte Maria Magdalena veranschaulicht die Personalunion von Sinnlichkeit und Geistigkeit in seltener Verdichtung und Intensität. Theologisch ist das ein Beieinander von Sünde und Erlösung, ein Beieinander, wohlgemerkt, und kein Nacheinander.
Es passt schlecht ins idealisierte Bild einer Heiligen, dass sie durch ihr „fleischliches“ Lieben Vergebung erworben und erhalten haben soll.
Aber die Zusage Jesu an Maria Magdalena, die Liebe und Vergebung zusammenschließt, bezieht sich auf ihr gesamtes Liebesleben  und nicht bloß auf ein adoratives Verhalten gegenüber dem Rabbi Jesus.

Dass die Malerei den Sinn für das Ineinander von Sinnlichkeit und Übersinnlichem behalten hat, zeigt Almut Sh. Bruckstein mit Chagalls Darstellung des gekreuzigten Christus. An den Körper des am Kreuze hängenden Jesus schmiegt sich eine weibliche Gestalt, todtraurig und dabei voller Verlangen. Ihr Gesicht ist stark aufwärts und zugleich rückwärts gewandt. Kein Wunder, sie gehört ja zu denen, die eigentlich im Himmel fußen, für die die Welt Kopf steht.[4]

Der Oberkörper mit den vollen Brüsten ist seltsam zur Seite verdreht.
In der Verlängerung der linken Leibesseite ist so etwas wie der Schatten eines Arms zu erkennen. Vielleicht Reste einer Körperhaltung, die Chagall dann übermalt hat.

Das erotische, durch die liebende Frau in die Kreuzigungsszene eingebrachte Moment wirkt erst einmal befremdlich. Es wird unterstrichen durch die schwellenden Brüste und die Rundungen des weiblichen Gesäß, die sich abzeichnen unter dem langen, fließenden Tuch, das die Sehnende und zugleich Trauernde umkleidet. Der, an den sich die junge Frau schmiegt, hat – wie sie selbst übrigens auch – die Augen geschlossen. Seine grünlich überflogene Haut deutet darauf hin, dass er bereits tot ist.[5]

II.

Von Dürer gibt es eine graphische Arbeit, die außerordentlich prägnant eine Ungleichzeitigkeit, nämlich die von Sinnlichkeit und Ratio zum Thema hat. Sie zeigt einen Zeichner bei der Arbeit an einem weiblichen Akt. In erhöhter Position und Positur ist eine mit üppigen Körperformen ausgestattete Frau zu sehen, die einem Mann Modell liegt. Die Frau räkelt sich in verfänglichen Haltungen. Ihr gegenüber ein Mann, der sie mit Ernst und strengem Blick betrachtet. Sie anzublicken gehört zu der Arbeit, die er verrichtet und in den größten Stücken noch vor sich hat. Diese Arbeit gestattet nicht nur den Blick, sie fordert ihn geradezu. Ein Blick, der ganz in den Dienst der Arbeitsaufgabe gestellt ist. Dazu gehört auch ein Wechsel der Blickrichtung: von seiner Vorlage, der liegenden Frau, auf das Blatt, das vor ihm auf der Tischfläche liegt, auf einer abgeteilten, durch einen aufgestellten Rahmen abgetrennten Tischhälfte. Er ist bei der Arbeit. Sie sollte darin bestehen, die sinnlich lockende Frau mit einem Stift aufs Blatt zu übertragen. Zwischen ihm und ihr – und das ist das entscheidende Detail – ist in einem Holzrahmen ein Gitternetz ausgespannt. Es dient dem Zeichner, die weibliche Gestalt in Planquadrate aufzuteilen, die er dann sorgfältig aufs Papier bringt.

Dürer ging es vordergründig darum, ein technisches Verfahren zu illustrieren und dadurch erlernbar zu machen. Das Blatt, ein Holzschnitt, stammt aus einer „Underweysung“ aus dem Jahre 1538. Die offenkundig didaktische Absicht überlagert eine gleichsam metatechnische Mitteilung. Diese verrät, dass eine bestimmte Methode, ein Vorgehen, das Auge und Hand, das Sehen und den gestischen Duktus zugleich erfasst und „auf den Weg bringt“, den Akteur und sein Tun, die Person und ihre Verrichtung in eine ganz bestimmte und quasi reglementierte Bahnung leitet.

Das von Dürer dargestellte und empfohlene Verfahren führt eine Trennung, vielleicht müsste man auch sagen: eine Entmischung durch, die offenbar einer spezifischen Kunstproduktion durchaus zuträglich ist.[6] Intention, Motiv und Absicht dieser Malweise sind von der technisch dominierten Methode allein her nicht zu verstehen. Sie bedienen sich dieser Methode, ohne Rücksicht auf ihre mentalen Konsequenzen, aber auch ohne manifestes Interesse, sie mit ihren Folgen zu reflektieren. Es sei denn, man nimmt diesen Holzschnitt selbst als eine Form der Reflexion.[7]

Der fadendurchspannte Holzrahmen ist zwischen dem Zeichner und der Frau postiert. Keine opake Wand, sondern ein Gitternetz und durchsichtig. Aber gerade dadurch bringt es eine Dichotomie zustande, unterstützt sie zumindest, die Zweiteilung des einen Raums, in dem beide Personen sich befinden. So kommen zwei von einander abgesetzte und gegensätzlich geladene Bereiche zu Stande. Es hat den Anschein, als würde der libidinöse Strom zwischen Frau und Mann und Mann und Frau durch die Apparatur des Sehgitters gekappt. Es lässt offensichtlich nur die Sehstrahlen durch, die des Zeichners, mit denen er  sein Gegenüber, nein seinen Gegenstand ’studiert‘. Die Frau bleibt mit ihrem Leib für sich und der Mann ist mit seiner Tätigkeit für sich.[8]

Im Effekt ist aus dem möglichen Objekt männlichen Begehrens das Objekt eines ‚realen‘ Naturstudiums geworden. Eine Beschäftigung, die von einer sublimierenden Aktivität getragen und umgewandelt wird in ein Gestalten, in dem das sinnliche Begehren des Mannes teils aufgehoben, transformiert, teils aber auch abgeschafft, eliminiert sein könnte. 
Es ist ein simpler Gegenstand, der sich als Instrument und Apparatur installiert zwischen den beiden Geschlechtern und die räumliche Trennung nahezu perfekt macht. Durch den heimlichen Siebcharakter der Vorrichtung lässt sich das Begehren des Mannes ganz auf seine abbildende Tätigkeit lenken. Sie fungiert im Sinne einer Ökonomie, die zusammen mit Arbeitsteiligkeit auch eine Verschiebung des libidinösen Interesse beinhaltet. Dies ermöglicht dem Zeichner ein Tun, das sich als produktiv und/oder reproduktiv hochhalten lässt. Aus Segmenten und Partikeln, die er aus den Planquadraten des Gitternetzes herausfischt, synthetisiert er die Erscheinung der Frau. Ein Pixel neben das andere. Ein Verfahren, das die Begegnung mit erregenden Details vermeidet. Die sind ja alle säuberlich und more geometrico auf unverfängliche Puzzleteilquanten reduziert.

Das Begehren, das der Frau nun einmal unterstellt bleiben soll, wird damit nur noch für die betrachtende Person sichtbar, für den (männlichen) Betrachter. Er gerät in eine voyeuristische Klemme. Räkelt sie sich nicht für ihn? Die vom Gitternetz abgewiesenen Verführungskräfte gehen nun auf ihn. Den Mann am Tischende kann man vergessen. Der hat andres zu tun. Seine Beschäftigung tangiert auch nicht das erotische Verlangen, das sich zwischen dem Voyeur und seinem Objekt aufbauen könnte. Eine komplett andere Form der Beziehung, die der männliche Blick dort, der männliche Blick hier aufnimmt.

Und doch könnte es sein, dass beide Sichtweisen einander bedingen und in problematischer Weise ergänzen, wie ehelicher „Verkehr“ und außerehelicher „Verkehr“ einander bedingen in einer männlich dominierten Welt,  in der Hure und Heilige sich nicht vereinbaren lassen.

Almut Sh. Bruckstein erinnert an die eminente Bedeutung, die der Maria Magdalena im Leben Jesu zufällt. Der Ritus der Salbung, den sie an ihm vollzieht, bestätigt ihn als den leibhaftig (und nicht nur symbolisch) Gesalbten. Ihr Mut: sie ist bei seinem Kreuzestod anwesend, während die Jünger schon alle geflohen sind. Als erste Person erlebt sie das Faktum der Auferstehung über den verschwundenen Leib. Sie ist beim Tod ihres Bruders, des Lazarus, dabei und erlebt seine Auferweckung mit.

Jesus „hatte sie sehr lieb und verteidigte sie gegen die Vorwürfe, eine Müßiggängerin und Verschwenderin zu sein.“[9] Vorwürfe dieser Art wurden übrigens gegen die männlichen Gefolgsleute Jesu nie erhoben, außer gegen Jesus selbst, der gelegentlich als „Fresser und Säufer“ denunziert wurde.

Ferner: „Sah er (Jesus) sie weinen, weinte er auch.“[10] 
Almut Sh.Bruckstein verweist auf die frühe Parallelisierung von Maria Magdalena „mit der großen Liebenden im Hohelied. Shulamit, wie sie dort heißt, ist die „Geliebte Gottes, die ’sonderliche Freundin‘ des Sohnes, … Gespielin und Hüterin einer erotischen Liebeskunst, deren integrative Kraft, Ungleichzeitiges zu zeitigen, in den traditionellen Überlieferungen notwendigerweise zensiert, gespalten, gezähmt erscheint. Maria Magdalena wie auch die Shulamit des Hohelied hinterlässt in christlicher wie in jüdischer Überlieferung vor allem die Spur ihres eigenen Verschwindens.“ [11]

Dürers Graphik „Der Zeichner des liegenden Weibes“ zeigt exemplarisch, dass Alterität nicht von alleine verschwindet, sondern durch bestimmte Verfahrensweisen, die sich in der westlichen Tradition durchgesetzt haben, zum Verschwinden gebracht wird. Es handelt sich dabei um einen methodischen, irgendwie auch bedachten, kühlen, sachbezogenen Exorzismus. Alterität wird gleichsam ausgetrieben.

Es soll noch eine Schilderung der Frau versucht werden aus der Perspektive, die sich einer Person bietet, die außerhalb des Bildes steht.
Eine Charakteristik, die noch stärker auf das „venerische“ Element eingehen könnte. Es gibt den heimlichen Störfaktor ab, gegen den die männliche Tätigkeit anarbeitet, gleichzeitig der Stachel, der diese Tätigkeit treibt. Sichtbar wird dies in der auffälligen Haltung der linken Hand. Der linke Arm ist erhoben, beinahe ausgestreckt liegt er auf dem linken Oberschenkel und folgt vielleicht einem Punkt, den die Frau mit gesenkten Lidern fixiert. Die Hand greift vom Oberschenkel herab, fasst merkwürdig ins Leere. Eine Haltung und Gebärde, die an bekannte Darstellungen der Venus erinnert. Venus liegt ausgestreckt auf ihrer Liege, die eine Hand über ihr Geschlecht gebreitet. Eine Geste, die offen lässt, ob sie eine erotisch stimulierende oder schamhaft bedeckende Absicht verfolgt.[12]

Auch wäre denkbar, dass sie im Begriff ist, den Bausch, den das Tuch zwischen ihren Oberschenkeln bildet, zu raffen, oder im Gegenteil auch wegzuheben, so dass der Zeichner nicht umhin könnte, Einblick zu nehmen in jene Körperpartie, die Jahrhunderte später einen französischen Maler so begeisterte, dass er sie „Ursprung der Welt“ nannte.

Will sie sich sorgfältiger verhüllen oder ist sie dabei, sich noch mehr zu entkleiden? Der männliche Blick des Betrachters – der nicht der Blick des Zeichners ist, aber vielleicht auch einer des Künstler – bleibt auch hier in einer reizenden und reizvollen Ungewissheit.

In merkwürdigem Kontrast zum Ver-Halten der Linken steht die Inaktivität der Rechten: rechter Arm und rechte Hand sind in das große Tuch oder Laken eingewickelt, das der Frau als einzige Bekleidung zur Verfügung steht.

Die unter dem Kopf des Weibes gestapelten Kissen lassen an einen Pfühl, an eine üppige Ruhestatt denken. Die erhobene Hand verrät, dass die Frau keinesfalls schläft. Vielleicht schlummert sie oder träumt vor sich hin. Die Lider sind weit herabgesenkt. Aber sind sie wirklich geschlossen? Ist da nicht noch ein Spalt, eine Spalte, ein Ritz, eine Ritze durch die der Blick hinausgehen kann? Er geht jedenfalls in nichts Gewisses, sondern in ein Ungefähr, das durch Hand, Rahmen, Sehgitter, Zeichner usw. nur sehr grob und unzutreffend angedeutet werden kann.

Zwischen dem Gesicht der Frau und der vage gehaltenen Hand dehnt sich eine üppige weibliche Landschaft aus, eine in Rundungen, Falten, Brüsten und Bauch sich ergießende Leiblichkeit. Das Voluminöse dieser leiblichen Weiblichkeit wird durch die wulstigen Plumeaus, die unter ihrem Haupt gebettet sind, hervorgehoben und unterstrichen.

Nicht ohne Belang ist der Nabel in der Mitte der weiblichen Figur. Er ist dem Betrachter auf eigentümliche Weise zugewandt. Erinnert an ein Auge, das in winzige Fältchen und eine große Falte eingebettet ist, ein Auge und doch ohne Blick.

Vor dem Zeichner und hinter dem aufrasternden Gitterwerk liegend bildet das Weib eine Welt für sich. Abgetrennt  wie durch eine spanische Wand[13], die aus lauter Fadenkreuzen besteht. Aus Knoten, rechtwinklig gezogenen Fäden und schließlich Maschen, die den Sehstrahl zwar durchlassen, aber gleichzeitig auch einfangen und kanalisieren.

Es ist darauf hingewiesen worden, dass die kompositorische Einheit des Bildraums allein durch den Tisch aufrecht erhalten wird.[14]

Man könnte hinzufügen: auch durch die Horizontlinie, die durch beide Fensteröffnungen läuft, obwohl sie mehrfach unterbrochen ist. Aber die Seenlandschaft draußen wird vom Betrachter einheitlich gesehen, obwohl auch sie im Blick zusammengesetzt wird, synthetisiert, wie dies im Blick des Zeichners mit den kleinen Planquadraten geschieht, in die er den Gegenraum einteilt, mit der Frau, die darin eine beeindruckende Leibeslandschaft abgibt.

Dabei ist nicht zu verkennen, dass der Betrachter im Hinblick auf die nackte Leibesfülle, ein wahres Pleroma, unbedingt den günstigeren Standort und Blickwinkel einnimmt. Dem Zeichner sind die tuchbedeckten Teile zugewandt, die in eine Decke gehüllten Gliedmaßen und Leibespartien aufgegeben.

Allerdings bleibt der Gedanke, zu dem die schwebende Gebärde der Frauenhand Anlass gibt, dass sie nämlich das Tuch mit einem Ruck wegziehen und dem Zeichner ihre Schenkel öffnen und ihre Blöße zeigen könnte, jedenfalls unterschwellig verfänglich. Oder anders gesagt: eine vollständige Enthüllung des Frauenkörpers würde dem Zeichner mehr sichtbar machen, als dem Betrachter.

Andrerseits ist es ja gerade die Bedecktheit des weiblichen Intimbereichs, der Umstand, dass diese Region unter dem Tuch verborgen ist und ein im Augenblick jedenfalls unzugängliches Geheimnis bildet, ein Geheimnis, in dem sich ein sinnliches Mysterium andeutet, ein kräftiger und entscheidender Anreiz für den Zeichner zu seinem gegenwärtigen Tun. In der Folge wird er sich bei seiner Arbeit, die ihn mit subtiler Überredungskunst dem künstlerischen Akt zuführt, herumschlagen müssen mit den Falten, die der Tuchstoff zwischen den Knien der Frau im Herabfallen bildet. Der tuchumwickelte rechte Arm ist aus der Perspektive, die dem Meister gegeben ist, wirklich nur durch höchstes zeichnerisches Können, nur durch einen genuinen Großmeister der Zeichenkunst zu bewältigen.

Die Schwierigkeiten, die sich für den Mann als Zeichner auftürmen,  sind gewissermaßen das umgekehrte Äquivalent zu der köstlichen und unbekleideten Leibesfülle, in deren Genuss allein der Betrachter, als Außenstehender kommt. So mag dessen Blick über den liegenden Körper hinweg für einen Augenblick ins Freie schweifen, das sich hinter dem Fenster auftut, unter dem die Frau liegt. Dort ist in spärlichen Andeutungen eine Landschaft skizziert: zwei Berge im Hintergrund, in denen sich die Rundung der weiblichen Brüste wiederholt. Festes Land geht in eine Wasserfläche über. Im Übergang Bäume, vielleicht ein Boot. 
Ein Fenster ist auch in der Hälfte des Raumes zu sehen, in welcher der Zeichner (immer noch) sitzt und arbeitet, schwach vornüber gelehnt. Dort wird die durch die Wasserfläche gebildete Linie, die stellvertretend für einen Horizont verläuft, unterbrochen von einem kleinen Busch, der in einem zweihenkeligen Topf sitzt. Seitlich davon eine kleine Kanne. Sie enthält wahrscheinlich das Wasser, mit dem die Pflanze begossen wird.

Wieder zum Zeichner auf der anderen Seite. Seine Hände sind ganz auf das Blatt bezogen. Die eine Hand beschwert es durch ihr Gewicht, die andere führt den Stift[15] darüber hinweg. Noch zu erwähnen ist ein Gerät, das in dem vorgestellten Vorgang eine wichtige Rolle spielt: eine Art Obelisk, den der Zeichner als Peilvorrichtung vor sich stehen hat. Ein Okular. Die Spitze des Obelisks befindet sich zwischen den Augen. Sie ermöglicht ein Zielen, ein präzises Anpeilen, eine Art des scharfen Hinblickens, die das normale Sehen und erst recht das Schauen ersetzen, bzw. verdrängen.

Zu einem Bild gehört, dass es gesehen wird.
Dürers Graphik ist ein Schaubild, macht auf einprägsame Weise die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem anschaulich. Der Betrachter stellt für die dargestellte duale Szene die dritte Person. Sie gibt den Standpunkt außerhalb des Bildes, der sich immer wieder überschneidet mit dem Ort, den der Künstler selbst eingenommen hat. Ein Ort, der nicht eingehalten werden kann. Er bleibt flüchtig zurück bei den Suchbewegungen, die das Auge vollführt, verliert sich im Schwarm erregter Phantasien und Umpositionierungen, die sich aus einer Art Triangulierung ergeben..

Bei aller Unhaltbarkeit könnte dieser „externe“ Standpunkt oder Blickwinkel zusammenfügen und ergänzen, was im Bild separiert oder nur angedeutet ist.

Dabei ist der virtuell gegebene Standpunkt kein neutraler: an der Schrägung des Sichtrahmens ist zu erkennen, dass der Betrachter eine leicht verschobene, von der Bildmitte nach rechts verrückte Position einnimmt. Er gehört eher dem Raum des Zeichners an, als der Raumhälfte, in dem die Frau liegt. Infolge dieser zugewiesenen „Parteilichkeit“ nimmt man  ggf. stärker teil an der Wachheit und methodischen Beobachtung des Mannes, als an der milden Erregung oder schwachen Schläfrigkeit, in der sich die Frau befindet. Es wird von männlicher Seite auf die Frau geblickt. Es gibt von weiblicher Seite keinen Blick auf den Mann.

Bildbetrachtung könnte einer außer Betracht stehenden Person verraten, wo der Betrachter „in Wirklichkeit“ steht. Nein, Betrachtung bestimmt den eigenen Ort, ehe sie ihn verrät. Doch gibt die im Medium der Bilder präsentierte Ungleichzeitigkeit der Standortsuche und –findung einen weiten Horizont.

Die von Dürer geschilderte methodisch hergestellte Entzweiung oder Verungleichzeitigung ist eine, welche den Mann und die Frau im Bild exemplarisch trifft. Sie sind beide in ihrer Pose, in ihrer Haltung gefangen gehalten. Sie fehlen einander. Ihre Beziehung ist eine des wechselseitigen sich Verfehlens.

Geschlechtliche Rollenverteilung, wie sie hier dargestellt ist samt den entsprechenden Zuschreibungen, ist Ausdruck eines buchstäblichen Okkupiertseins: der Mann aktiv, die Frau passiv, die Frau sinnlich, der Mann rational. Die Frau Objekt, der Mann Subjekt usw. Eine Bestandsaufnahme, die aus einem ins männliche Feld verschobenen Blickwinkel erfolgt.

Sie nimmt Elemente auf, die sich kritisch einwenden lassen gegen die Statthaftigkeit des technisch-methodischen Procedere, das der Künstler, das Dürer mit graphischen Mitteln beschreibt und als Unterweisung an die Hand gibt.

Abschließend noch einmal zurück zum Ausgang, zur Einschätzung der Maria Magdalena als einer Person, die in besonders eindrucksvoller Weise die Einheit von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit verkörpert.

In „Vom Aufstand der Bilder“, dem der Anstoß zu den vorliegenden Ausführungen zu verdanken ist, gibt es ein Gemälde von Chagall. Es zeigt den am Kreuz hängenden Corpus Christi und die daran schmerzlich und ekstatisch zugleich angeschmiegte Maria Magdalena.

Zu einem Bild gehört dazu, dass es gesehen wird.

In der Heiligenlegende sind nur dürftige Auskünfte zu der sinnlichen Liebesbeziehung der Maria zu Jesus, ihrem Rabbi, Meister und „Gefährten“ zu finden. Schon die Bezeichnung „Gefährte“, bzw. „Gefährtin“ ist in der traditionellen Hagiographie kaum anzutreffen. Der ganze sinnliche, erotische, physische und auch metaphysische Komplex, der durch diese Maria verkörpert wird, ist abgetan. Aber er existiert gleichsam im Zustand der Verbannung fort, im religiösen Unterstrom, der durch gewisse gnostische Sekten gebildet worden ist.

In der „Pistis Sophia“, einem religiösen Dokument aus frühchristlicher Zeit, „ist Maria (Magdalena)  neben Jesus die Hauptperson. Dort heißt es unter anderem: ‚Vortrefflich, Maria, denn du bist selig vor allen Weibern auf Erden, weil du das Pleroma aller Pleromata und Vollendung aller Vollendungen sein wirst. – Vortrefflich, Maria, du selige, du Pleroma oder du allseliges Pleroma, welche unter allen Geschlechtern selig gepriesen wird. – Vortrefflich, Maria, du selige, welche das ganze Lichtreich erlösen wird, und vortrefflich, Maria, du Erlöserin des Lichtes.'“[16]

Im apokryphen Philippusevangelium tritt der sinnliche Aspekt, den diese Jüngerin in die überwiegend männliche Apostelgemeinschaft einbringt, und zwar speziell durch ihre Liebesbeziehung zu Jesus, noch stärker hervor. Zugleich wird sie identifiziert mit der göttlichen Weisheit, mit der Sophia:

„Die Sophia, die man ‚die Unfruchtbare‘ nennt, sie ist die Mutter der Engel und die Gefährtin des Heilandes. Der Heiland liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger. Und er küsste sie oftmals auf ihren Mund, Die übrigen Jünger waren auf sie eifersüchtig. Sie fragten ihn und sprachen: ‚Weshalb liebst du sie mehr als uns alle?‘ Der Heiland antwortete und sprach zu ihnen: ‚Weshalb liebe ich euch nicht so wie sie?. Ein Blinder und einer, der sieht, sind nicht voneinander verschieden, wenn beide im Finstern sind. Wenn aber das Licht kommt, wird der Sehende das Licht sehen und der blind ist, wird im Finstern bleiben.'“[17]


[1] Almut Sh. Bruckstein, Vom Aufstand der Bilder, München: Fink 2007, 81

[2] Markus 16,9; Lukas 8,2

[3] Lukas 7,47

[4] Almut Sh. Bruckstein,  Vom Aufstand der Bilder, München: Fink 2007, 70ff.

[5] der grüne Teint könnte allerdings auch auf die Messianität des Gekreuzigten anspielen, vgl. z.B. Abraham Tendlau in „Sprichwörter und Redensarten deutsch-jüdischer Vorzeit“ zu dem Ausspruch „Das is e grüner Meschiach!“. Tendlau bezieht sich auf  Jesaja 53,3 bzw. 53,5 und Jalkut zu dieser Stelle.

[6] an der Frage, ob es sich um einen Vorgang der Trennung oder einen der Entmischung handelt, könnten sich die Geister scheiden.

[7] in Abwandlung des programmatischen Ut pictura poiesis könnte man folgern, dass es in jedem Bild einen Bildgedanken gibt samt einer daraus möglicherweise zu entwickelnden Theorie, die stracks über den manifesten Bildinhalt hinausträgt.

[8] ob er im Zuge dieser Tätigkeit bei sich ist oder auf dem Weg zum Bild zu sich kommt, bleibt eine schwer zu entscheidende Frage; sie ist für den Zeichner eventuell noch beantwortbar, aber nicht mehr für den Mann, für den Menschen.

[9] A.Ch. Sellner, Immerwährender Heiligenkalender, Frankfurt a.M.; Eichborn 1993, 243

[10] A.Ch. Sellner, Immerwährender Heiligenkalender, Frankfurt a.M.; Eichborn 1993, 243

[11] Almut Sh. Bruckstein, Vom Aufstand der Bilder, München: Fink 2007, 78

[12] vgl. Tizians Venus aus dem Jahre 1538, übrigens dasselbe Jahr, in dem Dürers Graphik in seiner „Underweysung“, als Anleitung für bildende Künstler gedacht, veröffentlicht wurde. Dasselbe Motiv, ruhende Venus mit linker Hand am – oder auf dem – Genital, hat Manet 1856 kopiert und 1863, nun allerdings im Ambiente verändert, unter „Olympia“ noch einmal aufgenommen (Abb. in K.E. Mason, Themes and Variations, London 1960, 144f.). Ebenso Hans Rottenhammer in seiner „Allegorie der Künste“, bei G.W. Költzsch, Der Maler und sein Modell, Abb. S. 143. 

[13] „Spanische Wand, zusammenlegbare, überall aufstellbare Wand, die zum Schutz gegen Wind in Gärten und auf Balkonen, sowie in Zimmern zur Abtrennung eines Raumes dient.“ Brockhaus‘ Konversations=Lexikon, 1898, s.v.

[14] Georg W. Költzsch, Maler und Modell, Köln: DuMont 2000, 138ff.

[15] ein kleines Gefäß auf dem Tisch, das Tinte oder Tusche enthalten könnte, würde den Stift als Zeichenfeder definieren; aber vielleicht ist es momentan funktionslos, eine kompositorische Beigabe oder berufliches Akzessoire, wie der Stichel an der Hüfte des Zeichners.

[16] Hans Leisegang, Die Gnosis, Stuttgart 1955, 114

[17] Die Gnosis, Hg. Carl Andresen, Zürich: Artemis 1971, 2.Bd, 105

1 Antwort zu Dürer, Zeichner

  1. Dr. Ernst Theodor Mayer sagt:

    Der Holzschnitt “Der Zeichner des liegenden Weibes“ ist wohl von Dürer veranlasst, aber nicht in sein Mathematikbuch “Unterweisung der Messung..“ 1525 von ihm übernommen worden. Dort findet sich auf der vorletzten Seite (Folio Q III) vielmehr eine Laute. Der mutmaßliche Holzschnitt der Versuchung kam, wie im obigen Text auch angegeben, 1538 in die 3. Auflage der Unterweisung, das aber und erst zehn Jahre nach Dürers Tod am 9.4.1528.
    Inwieweit Dürer hier “eine graphische Arbeit gibt, die außerordentlich prägnant Ungleichzeitigkeit, nämlich die von Sinnlichkeit und Ratio zum Thema hat“ , oder ob Dürer von seinem Modell evtl. in eine „voyeuristische Klemme“ gebracht worden sei und ob man das von dem türkisch-ägyptischen Kahlil-Bey (1831-1879) beim Maler Gustave Courbet bestellte Gemälde „Ursprung der Welt“ damit in Beziehung bringen kann, bleibt heutiger Ursachen-Forschung vorbehalten. Dr. Ernst Th. Mayer

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